
Die Fundstätte Atapuerca bei Burgos sorgt erneut für Schlagzeilen. Nach mehrjähriger Forschung wurden dort 2022 entdeckte Gesichtsknochen auf ein Alter zwischen 1,4 und 1,1 Millionen Jahren datiert. Damit handelt es sich um die ältesten menschlichen Gesichtsknochen Westeuropas, die einer neuen Art, vorläufig als Homo affinis erectus klassifiziert, zugeordnet werden.
Dieser Fund, ATE7-1 genannt, ist von immenser Bedeutung für das Verständnis der frühen Hominiden-Migration und -Evolution in Europa während des frühen Pleistozäns. Die Entdeckung wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Federführend bei der Studie waren Dr. Rosa Huguet, Forscherin am IPHES-CERCA, außerordentliche Professorin an der Universitat Rovira i Virgili (URV) und Koordinatorin der Ausgrabungen in der Sima del Elefante, sowie Dr. Xosé Pedro Rodríguez-Álvarez, Forscher an der URV.
Eurasien wurde vermutlich vor mindestens 1,8 Millionen Jahren erstmals von Hominiden besiedelt. Atapuerca liefert die ältesten Belege menschlicher Präsenz in Westeuropa. Die bis 1994 ältesten Fossilien stammten aus der Gran Dolina und waren etwa 860.000 Jahre alt. Dieser historische Fund umfasste die Überreste von sechs Individuen (zwei Kinder, zwei Jugendliche und zwei Erwachsene) einer neuen Art, des Homo antecessor.
Dieser frühe Mensch, mit einem im Vergleich zu seinen Vorfahren moderneren Gesichtsaufbau, gilt als Vorfahre sowohl des Homo sapiens als auch des Neandertalers. Im Jahr 2007 wurde in der Sima del Elefante ein etwa 1,2 Millionen Jahre alter Unterkiefer eines Hominiden gefunden, der nicht eindeutig dem Homo antecessor zugeordnet werden konnte und möglicherweise einer anderen Art angehörte. „Er wurde schließlich als Homo sp. klassifiziert, also ohne Artbezeichnung“, erklärt Rosa Huguet.
Ein Jahr später wurde ein Fingerknochen entdeckt, der ebenfalls keiner bestimmten Art zugeordnet werden konnte. Nach vielen weiteren Ausgrabungskampagnen fand das Atapuerca-Team schließlich das entscheidende Puzzleteil: Einen Unterkieferknochen, der 2022 in der Sima del Elefante in einer etwa 2,5 Meter tieferen Schicht – und damit älter – als der Fund von 2007 entdeckt wurde, wie Huguet betont.
Dieser Knochen sowie ein gleichzeitig in derselben Schicht gefundenes linkes Jochbein eines Erwachsenen wurden mittels 3D-Bildgebung analysiert. Die Ergebnisse wurden kürzlich in Nature veröffentlicht. Das Forschungsprojekt rund um diese Überreste trägt den Namen „Pink“, eine Hommage an einen Song von Pink Floyd und eine Anspielung auf die Forscherin Rosa Huguet (pink ist Englisch für rosa).
„Pink“ gehört jedoch nicht zum Homo antecessor, da ihm dessen „moderne“ Gesichtszüge fehlen. Homo antecessor besaß im infraorbitalen Bereich, unterhalb der Augen, „ein vertikales Gesicht“ und „eine hervorstehende Nase, ähnlich unserer“, erklärt Martinón-Torres.
Auch ein Vergleich mit den ältesten Hominiden-Fossilien außerhalb Afrikas – 1,7 Millionen Jahre alte Funde aus Dmanisi (Georgien) und Überreste des Homo erectus aus anderen Teilen der Welt – zeigt, dass „Pink“ keiner dieser Gruppen zugeordnet werden kann. Der Fund „nimmt eine Zwischenstellung ein und eröffnet ein völlig neues Kapitel in der menschlichen Evolution“, so Martinón-Torres. Obwohl weitere Funde und Erkenntnisse zur Bestätigung notwendig sind, wurde die neue Art vorläufig als Homo affinis erectus klassifiziert.
Das Team ist sich einig, dass der Fund beweist, dass vor der Ankunft des Homo antecessor eine andere Art in Westeuropa existierte: „Wir haben ein neues Mitglied im Familienalbum der Menschheit, und obwohl das Bild etwas unscharf ist, ist da noch jemand. Atapuerca hat erneut Geschichte geschrieben, und zwar mit großem H“, so Martinón-Torres.
Umwelt und Lebensweise
Die Studie konnte auch den Kontext dieses Hominiden rekonstruieren: „Dank der ganzheitlichen Arbeit und der Bergung weiterer archäologischer Funde wie Steinwerkzeuge und Tierknochen mit Schnittspuren sowie der paläoökologischen Untersuchung der Sedimente konnten wir die Umwelt, in der diese Menschen lebten, beschreiben und ihren Lebensstil rekonstruieren“, erklärt Huguet.
„Wir wissen, dass es bewaldete Gebiete mit saisonalen Wasserquellen gab und Tiere wie Biber und Flusspferde in dieser Umgebung lebten. Das Klima war gemäßigt und feucht, mit Pflanzen wie der Haselnuss, die typisch für mediterrane Gebiete ist“, beschreibt die Forscherin. Die Steinwerkzeuge waren sehr primitiv, einfache Mode-1-Werkzeuge der Oldowan-Kultur aus Quarz und Feuerstein, die zur Verarbeitung von Tieren verwendet wurden.
Eine vielversprechende Zukunft
Die Herausforderung besteht nun darin, weitere Überreste zu finden, die die Existenz dieser neuen Art offiziell und taxonomisch bestätigen. In der Sima del Elefante müssen noch die untersten Schichten (etwa 5 Meter) ausgegraben werden, was „dank dieses Impulses zwei oder drei Jahre sehr interessanter Arbeit“ verspricht, so Huguet.
Obwohl es in der Gran Dolina, deren älteste Sedimente etwa eine Million Jahre alt sind, unwahrscheinlich ist, Überreste des neuen Homo zu finden, kann dies an anderen, erst kürzlich erschlossenen und vielversprechenden Fundstellen wie der Cueva Fantasma nicht ausgeschlossen werden.
„In Atapuerca sollte man niemals nie sagen, denn wir wurden schon oft überrascht. Es ist ein Ort mit enormem Potenzial und außergewöhnlichem Erhaltungsgrad. Einfach spektakulär“, resümiert Martinón.

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