Die Stadt frisst ihre Bewohner: Das steckt wirklich hinter dem Slogan «Madrid me mata»

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Die Stadt frisst ihre Bewohner: Das steckt wirklich hinter dem Slogan «Madrid me mata»
ID 4716555 © Vinicius Tupinamba | Dreamstime.com

«Madrid me mata» – «Madrid bringt mich um». Dieser Satz, einst ein liebevoller Slogan der wilden «Movida madrileña» der 80er Jahre, hallt heute mit neuer, ernsterer Bedeutung durch die Straßen der spanischen Hauptstadt. Madrid boomt, pulsiert und zieht Menschen aus aller Welt magisch an. Doch der gewaltige Zustrom, insbesondere aus Lateinamerika, stellt die Metropole vor eine Zerreißprobe und entfacht eine komplexe Mischung aus Bewunderung und Verzweiflung.

Vom grauen Erbe Francos zur bunten «Movida»

Wer das heutige Madrid erlebt, kann sich kaum vorstellen, dass die Stadt unter Franco eine verschlafene, verknöcherte und bürokratische Metropole war. Grau wie die Stimmung im Land. Der Tod des Diktators 1975 wirkte wie ein Weckruf. Mit der «transición», dem Übergang zur Demokratie, erwachte die Stadt aus einem Dornröschenschlaf. Plötzlich gab es politische Parteien, Zeitungen wie «El País» schufen eine nie dagewesene Debattenkultur, und die Gesellschaft entdeckte die Freiheit.

Dieser politische Wandel entfesselte eine kulturelle Explosion: «la Movida». Pedro Almodóvar brach mit Filmen wie «Pepi, Luci, Bom und andere Mädchen aus der Bande» Tabus. Künstler wie die Musikerin Alaska, die Modedesignerin Ágatha Ruiz de la Prada oder der Maler Juan Muñoz brachten eine kreative Unruhe, die Madrid über Nacht in eine faszinierende Metropole verwandelte und Besucher aus aller Welt anlockte.

Der demografische Urknall: Eine Million Latinos in Madrid

Damals zählte Madrid rund 3,2 Millionen Einwohner. Heute, im Großraum, sind es 6,8 Millionen. Der gewaltigste Anstieg erfolgte seit der Jahrtausendwende, angetrieben durch eine massive Einwanderungswelle. Ende 2024 offenbarte der Zensus eine Zahl, die viele aufschreckte: Mehr als eine Million Einwohner Madrids sind Lateinamerikaner. Jeder siebte Bewohner ist ein Latino, die meisten von ihnen sind in den letzten 25 Jahren gekommen.

Diese Veränderung prägt das Stadtbild unübersehbar. Märkte bieten exotische Waren aus Peru, Ecuador oder Bolivien an, und unzählige Restaurants servieren die Küchen ihrer Heimatländer. Die Immigranten sind das Rückgrat vieler Dienstleistungen. Sie erledigen oft die niedriger bezahlten Arbeiten, kümmern sich um Kinder und Alte, häufig unter prekären Bedingungen. Viele reisen als Touristen ein und schlagen sich illegal durch, bevor sie Papiere erhalten – eine Situation, die Ausbeutung Tür und Tor öffnet, wie die Autorin Brenda Navarro in ihrem Roman «Ceniza en la boca» eindrücklich beschreibt.

Zwischen Chance und Realitätscheck: Politik und soziale Spannungen

Ministerpräsident Pedro Sánchez hat versprochen, die Legalisierung von 900.000 Immigranten zu beschleunigen. Er nennt sie eine «unersetzliche Chance» für Spaniens Wirtschaft, zur Stabilisierung der Renten und zur Anhebung der Geburtenrate. Hochtrabende Worte, die in der Realität oft auf eine harte Probe gestellt werden.

Madrid ist das unangefochtene Epizentrum der lateinamerikanischen Immigration in Spanien. Rund 62 Prozent von ihnen leben hier, deutlich mehr als in wohlhabenden Regionen wie Katalonien, wo die Anforderung, Katalanisch zu lernen, eine Hürde darstellt.

Die zwei Gesichter der Einwanderung: Milliardäre und «Mileuristas»

Die Einwanderung hat zwei Extreme. Superreiche Lateinamerikaner aus Mexiko, Venezuela oder Kolumbien kaufen die teuersten Wohnungen in Nobelvierteln wie Salamanca und treiben die Immobilienpreise in astronomische Höhen. Gleichzeitig kämpfen die ärmeren Migranten und viele junge Spanier ums Überleben. Ein kleines Zimmer für 600 Euro ist für einen «Mileurista», der nur 1000 Euro im Monat verdient, kaum bezahlbar.

Diese armen Migranten leben in den Vorstädten wie Vallecas oder San Cristóbal und nehmen tägliche Pendelzeiten von bis zu zwei Stunden in Kauf. Soziale Spannungen sind unvermeidlich, denn nicht alle Latinos sind willkommen, da sie aus Not Dumpinglöhne akzeptieren müssen, was den Arbeitsmarkt unter Druck setzt.

Madrid löst Barcelona und Miami ab

Diese Entwicklung ist eine historische Verschiebung. In den 70er Jahren flohen Intellektuelle vor den Militärdiktaturen in Chile oder Argentinien eher ins weltoffene Barcelona. Die Stadt war dank Autoren wie Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa die literarische Hauptstadt Lateinamerikas. Die Reichen zog es derweil nach Miami, die finanzielle Hauptstadt des Kontinents.

Heute hat sich das Bild gedreht. Geld und Kultur strömen nach Madrid. Über zwanzig bekannte lateinamerikanische Schriftsteller leben hier. Die Metropole ist zum Hotspot für Gastronomie, Kongresse und Museumstouristen geworden und zählt zu den wichtigsten Wirtschaftsregionen Europas.

Wohin gehst du, Madrid?

Doch der Erfolg hat seinen Preis. Eine Sondernummer von «El País» stellte kürzlich die Frage: «Wohin gehst du, Madrid?». An der Peripherie grassieren Armut und Arbeitslosigkeit. Der Bauboom hat fast das gesamte verfügbare Land verbraucht. Der Klimawandel lässt die Sommertemperaturen explodieren. Kritiker bemängeln, Madrid sei eine oberflächliche Stadt geworden, die den Augenblick lebt, aber wenig Raum für tiefere Debatten lässt.

«Wir leben den besten Augenblick unserer Geschichte, sind aber nicht zufrieden», klagt der Bürgermeister. Und so teilen heute viele Bewohner, ob alteingesessen oder neu zugezogen, das Gefühl hinter dem alten Slogan: «Madrid me mata» – eine erschöpfte, aber unerschütterliche Liebeserklärung an eine Stadt, die am Rande ihrer Kapazitäten pulsiert.


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