Es ist eine stille Gefahr, die jedes Jahr hunderte Leben an Spaniens Küsten, in Flüssen und Pools fordert. Experten vergleichen das Ertrinken oft mit Verkehrsunfällen: vermeidbare Tragödien mit verheerenden Folgen. Doch anders als im Straßenverkehr fehlt eine zentrale offizielle Stelle wie die Generaldirektion für Verkehr (DGT), die diese Unfälle erfasst und systematisch bekämpft. Die traurige Bilanz stützt sich auf inoffizielle Zählungen von Organisationen, die unermüdlich für mehr Aufmerksamkeit für dieses öffentliche Gesundheitsproblem kämpfen.
Eine vermeidbare Tragödie: Die alarmierenden Zahlen
Die Königlich Spanische Föderation für Rettung und Lebensrettung (RFESS) zeichnet ein düsteres Bild. Das letzte Quartal war mit 209 Todesfällen das tödlichste seit Beginn ihrer Aufzeichnungen vor zehn Jahren. Allein im Juli dieses Jahres starben 92 Menschen, die Gesamtzahl der Todesopfer beläuft sich bisher auf mindestens 303. Das häufigste Szenario ist der Strand, an dem die meisten dieser Dramen geschehen.
Das Risikoprofil: Männer über 65 im Fokus der Statistik
Die Daten zeigen ein klares Muster: 82 % der Opfer sind Männer, und die am stärksten betroffene Altersgruppe sind Senioren über 65 Jahre. Experten erklären diesen Geschlechterunterschied damit, dass Männer tendenziell risikofreudiger sind. Das fortgeschrittene Alter erhöht die Anfälligkeit zusätzlich, da vorbestehende gesundheitliche Probleme wie Herzinfarkte, Schwindel oder plötzlicher Blutdruckanstieg im Wasser schnell lebensbedrohlich werden können.
Jenseits der Statistik: Kinder und Jugendliche als weitere Risikogruppen
Doch niemand ist vor den Gefahren des Wassers sicher. Roberto Barcala, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Vigo, betont, dass neben älteren Menschen zwei weitere Gruppen besonders gefährdet sind: junge Menschen, die durch Leichtsinn in Gefahr geraten, und unbeaufsichtigte Kinder. Die National Child Safety Association (ANSI) verzeichnet bis Mitte des Sommers bereits 32 Todesfälle bei Minderjährigen – eine Zahl, die fast der Bilanz ganzer Jahre mit hoher Unfallrate entspricht. “Kleine Kinder ertrinken oft leise in Pools, manchmal in den kleinen, aufblasbaren Becken aus dem Baumarkt”, warnt Barcala. Die Ursache ist fast immer ein Mangel an Aufsicht.
Ángeles Miranda, Vizepräsidentin von ANSI, fordert eine “Hüter des Wassers”-Kultur: “Es muss immer ein Erwachsener designiert sein, der die Kinder im Wasser ohne Unterbrechung beaufsichtigt. Wir haben verinnerlicht, nicht betrunken Auto zu fahren. Dieselbe Selbstverständlichkeit brauchen wir bei der Aufsicht am Wasser.”
Das stille Sterben: Warum Ertrinken oft unbemerkt bleibt
Entgegen der Darstellung in Filmen ist Ertrinken ein leiser und schneller Prozess. “Niemand schreit um Hilfe”, erklärt Barcala. “Es ist subtil und dauert im Durchschnitt nur 90 Sekunden.” Diese kurze Zeitspanne entspricht alltäglichen Handlungen wie einem Telefonat oder dem Erwärmen von Essen in der Mikrowelle. Die Tragweite ist noch größer: Auf jeden Todesfall kommen drei bis fünf Menschen, die zwar überleben, aber notärztlich behandelt werden müssen und oft schwere gesundheitliche Folgen davontragen.
Der Ruf nach Wandel: Experten fordern mehr Aufklärung und Prävention
Alle befragten Experten sind sich einig: Es bedarf dringend eines Umdenkens. Luis Miguel Pascual, ein Forscher auf dem Gebiet, vergleicht die aktuelle Risikowahrnehmung mit der Ära des Seat 600 im Straßenverkehr. Wir sind weit zurückgeblieben. Miguel Ángel Sánchez Arrocha vom Roten Kreuz listet die vielfältigen Faktoren auf: die Beschaffenheit des Strandes, Strömungen, Wind, aber vor allem das menschliche Verhalten. “Die meisten Unfälle passieren durch Unachtsamkeit”, stellt er klar.
Der Ruf nach Informationskampagnen im Stil der DGT, die die Zahl der Verkehrstoten drastisch reduziert haben, wird lauter. Auch die Forderung nach Aufklärung in Schulen, ähnlich der Verkehrserziehung, gewinnt an Zuspruch. Sebastián Quintana vom Verein “Canarias 1.500 Kilómetros de Costa” fasst es treffend zusammen: “Information ist der beste Rettungsring.”
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