Die weiße Linie: Warum Spanien beim Kokainkonsum an der Spitze Europas steht

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Warum Spanien beim Kokainkonsum an der Spitze Europas steht
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Spanien ist nicht nur für seine Sonne und Lebensfreude bekannt, sondern auch für eine düstere Statistik: Das Land gehört zu den weltweiten Spitzenreitern beim Kokainkonsum. Innerhalb der Europäischen Union ist es das Land, in dem die meisten Menschen eine Behandlung wegen ihrer Kokainabhängigkeit suchen. Doch trotz dieser alarmierenden Fakten herrscht ein ohrenbetäubendes Schweigen. Wie der Schriftsteller und Journalist David López Canales treffend bemerkt: “Über Koka wird nur gesprochen, um es zu beschlagnahmen, nie beim Namen, als ob das Benennen einen Fluch heraufbeschwören würde.” Dieses Tabu ist so stark, dass kein spanischer Politiker jemals zugeben würde, die Droge konsumiert zu haben – und das, obwohl der Konsum offensichtlich weit verbreitet ist.

Das Paradox des Schweigens: Warum redet niemand darüber?

Kokain ist die unangefochtene Königin der Drogen in Spanien, mit einem Konsum, der Substanzen wie Amphetamine, Ecstasy oder Ketamin weit in den Schatten stellt. Dennoch bleibt es “eines der großen Tabus moderner Gesellschaften”, so López Canales. Es findet keine öffentliche Debatte statt, um die Gründe für den hohen Verbrauch zu verstehen. Warum sprechen nicht einmal die Konsumenten selbst offen darüber?

Historisch gesehen war Spanien, insbesondere über Galicien, neben Antwerpen einer der Hauptimporthäfen für Kokain nach Europa. Behörden nutzen dieses “Prävalenz”-Argument gerne, um den hohen Konsum zu erklären: Wo mehr Drogen ankommen, wird auch mehr konsumiert. Doch David López Canales entkräftet diese simple Theorie: “Als ob die Drogenhändler es in Tüten aus kleinen Flugzeugen werfen würden.” Ein Blick auf das Nachbarland wirft diese Rechtfertigung über den Haufen: “Mit den offenen Grenzen ist Portugal das gleiche Territorium wie Spanien, und sein Kokainkonsum ist zehnmal niedriger.” Die größere Verfügbarkeit mag ein Faktor sein, doch die entscheidende Frage ist: Konsumieren die Spanier mehr, weil es leichter zu bekommen ist, oder ist es leichter zu bekommen, weil die Nachfrage so hoch ist?

Faktoren der Normalisierung: Preis, Lebensstil und Gesetz

Mehrere Faktoren tragen zur Normalisierung und zum hohen Konsum bei. Zum einen wird der Besitz von Kokain für den Eigenbedarf in Spanien nicht kriminalisiert, was die Hemmschwelle senkt. Zum anderen ist der Preis erstaunlich stabil geblieben. 1982 kostete ein Gramm 10.000 Peseten (heute etwa 60 Euro) bei einem durchschnittlichen Jahresgehalt von umgerechnet 7.500 Euro. Heute, bei einem Durchschnittsgehalt von 30.000 Euro, kostet das Gramm immer noch 60 Euro. Die Droge ist also für eine breite Bevölkerungsschicht erschwinglich geworden.

Der mediterrane Lebensstil, der soziale Interaktionen im Freien fördert, begünstigt ebenfalls den Konsum. Kokain wird oft als Teil des Nachtlebens, in Gruppen, als Mittel zum Spaß und zur Flucht konsumiert. Die Wahrnehmung hat sich gewandelt: War es früher die Droge der Reichen, der Künstler und Eliten, ist es heute beim Klempner, dem Cousin vom Land oder dem Kellner an der Ecke angekommen. Das Kino und die Fiktion spiegeln diese Entwicklung wider und tragen zur Normalisierung bei, indem sie Kokain in alltäglichen Szenarien zeigen. Die Angst ist verschwunden. Während Drogen 1986 noch als das größte Problem des Landes galten, ist die Risikowahrnehmung heute massiv gesunken.

Die fehlende Debatte: Zwischen Stigma und Legalisierungsgedanken

Trotz der Normalisierung im Konsum bleibt das Stigma des Drogenabhängigen bestehen. Dieser Widerspruch verhindert eine dringend notwendige öffentliche Debatte. Glücklicherweise wächst eine neue Generation heran, deren Eltern teils selbst Konsumenten waren und die versteht, dass das Thema komplexer ist als die simple Doktrin des Prohibitionismus (“Drogen sind Sünde”). Maßnahmen zur Risikominderung erkennen an, dass nicht jeder Konsument automatisch süchtig ist.

Dennoch wird über eine Legalisierung kaum ernsthaft gesprochen, obwohl die weltweite Kokainproduktion mit über 2.000 Tonnen pro Jahr einen neuen Höchststand erreicht hat. David López Canales argumentiert, dass eine Legalisierung immense Vorteile hätte: “Sie würde Einnahmen für den Staat durch Steuern bedeuten, die Ausgaben für den Kampf gegen den Drogenhandel reduzieren, kriminellen Netzwerken die Geschäftsgrundlage entziehen, die Qualität des Produkts erhöhen und eine Alternative zum Prohibitionismus schaffen.” Das Hauptgegenargument lautet, der Staat könne kein Produkt legalisieren, das so schädlich für die Gesundheit ist. Doch ob eine Legalisierung den Konsum tatsächlich drastisch erhöhen würde, bleibt eine unbewiesene Hypothese.

Das Drogengeschäft bewegt jährlich über 400.000 Millionen Euro und ist eine tragende Säule der organisierten Kriminalität. Gleichzeitig ist der Konsum von psychoaktiven Substanzen historisch tief im Menschen verankert. In unserer hypervernetzten Welt, in der Produktivität, ständiges Glück und Selbstoptimierung zum Zwang werden, bietet Kokain scheinbar die Möglichkeit, “die beste Version von sich selbst” zu sein. Eine ernsthafte Debatte darüber zu vermeiden, bedeutet, einen entscheidenden Aspekt unserer modernen Gesellschaft zu ignorieren. Wie López Canales schlussfolgert, geht es nicht mehr nur um Substanzen, sondern darum, “wer wir kollektiv sind, welche Zukunft wir als Gesellschaft anstreben und wie dies zum Wohlbefinden, zum Glück oder zur Linderung menschlicher Ängste beiträgt.”


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