Eine bahnbrechende Entdeckung spanischer Wissenschaftler könnte die Prävention und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der weltweit häufigsten Todesursache, grundlegend verändern. Nach 15 Jahren intensiver Forschung an Tausenden von Freiwilligen der Banco Santander in Madrid haben Forscher des Nationalen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (CNIC) einen unerwarteten Zusammenhang zwischen Darmbakterien und der Entstehung von Arteriosklerose aufgedeckt. Die Ergebnisse, veröffentlicht im renommierten Fachmagazin Nature, zeigen, dass ein von bestimmten Bakterien produziertes Molekül namens Imidazolpropionat (C₆H₈N₂O₂) die Ablagerung von Fetten und Cholesterin in den Arterien nicht nur auslösen, sondern direkt verursachen kann.
Der überraschende Auslöser: Imidazolpropionat und seine Wirkung
Die Langzeitstudie mit Mitarbeitern der Banco Santander, die als scheinbar gesunde Personen zwischen 40 und 55 Jahren begannen, enthüllte eine schockierende Realität: 63 % der Teilnehmer wiesen bereits Anzeichen von Arteriosklerose auf. Die neuen Erkenntnisse beleuchten, wie Imidazolpropionat aus dem Darm ins Blut gelangt. Dort interagiert es mit unreifen weißen Blutkörperchen und löst eine Entzündungsreaktion in den Arterien aus, die die Bildung von Fettplaques fördert.
„Imidazolpropionat induziert von selbst Arteriosklerose. Es gibt eine Kausalität“, fasst der Biologe David Sancho, Leiter der Studie am CNIC, zusammen. Sein Team verabreichte das Molekül Mäusen, die daraufhin die Krankheit entwickelten. Zudem zeigten erhöhte Imidazolpropionat-Spiegel bei jedem fünften Studienteilnehmer mit aktiver Arteriosklerose, jener Form, die am wahrscheinlichsten zu gefährlichen Thromben führt, die Herzinfarkte und Schlaganfälle verursachen. Diese Erkenntnisse stellen das bisherige Verständnis von Arteriosklerose als reine Fettkrankheit in Frage und betonen ihre entzündliche und autoimmune Komponente.
Ein Paradigmenwechsel: Diagnose und Prävention vor der Tür
Die gute Nachricht ist, dass die Identifizierung von C₆H₈N₂O₂ als Verursacher neue Wege für die Prävention und Therapie eröffnet. Die Forscher konnten den Rezeptor, an den das Molekül bindet, identifizieren und durch ein Medikament blockieren. Dies führte bei Mäusen, die mit einer cholesterinreichen Ernährung gefüttert wurden, zu einer deutlichen Reduzierung des Fortschreitens der Arteriosklerose. „Mit diesem Hemmstoff verhindern wir die Entstehung der Krankheit vollständig“, erklärt Sancho, der die experimentelle Behandlung gemeinsam mit Kollegen wie der Pharmakologin Annalaura Mastrangelo und dem Kardiologen Valentín Fuster, Generaldirektor des CNIC, patentiert hat.
Die Relevanz dieser Entdeckung wird durch frühere Forschungen unterstrichen. Bereits 2018 entdeckte der schwedische Biologe Fredrik Bäckhed höhere Imidazolpropionat-Spiegel bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Eine erst vor drei Monaten veröffentlichte, unabhängige Studie unter der Leitung des Kardiologen Arash Haghikia bestätigte zudem den Zusammenhang zwischen dem bakteriellen Molekül und Arteriosklerose. Haghikia von der Ruhr-Universität Bochum betont: „Dass zwei verschiedene Gruppen zum selben Schluss gekommen sind, stärkt die Zuversicht, dass es sich um eine bedeutende und relevante Entdeckung handelt.“ Besonders bemerkenswert ist, dass Imidazolpropionat Arteriosklerose auch bei normalem Cholesterinspiegel fördern kann, was erklärt, warum manche Menschen trotz fehlender traditioneller Risikofaktoren Herzerkrankungen entwickeln.
Früherkennung und Lebensstil: Der Weg in die Zukunft
Die detaillierte Untersuchung der Santander-Freiwilligen mittels fortschrittlicher Bildgebung wie CT und PET zeigte, dass hohe Imidazolpropionat-Spiegel bereits in sehr frühen, unsichtbaren Stadien der Arteriosklerose vorhanden sind. Dies könnte die Diagnose in einem Stadium revolutionieren, in dem Menschen gefährdet sind, ohne es zu wissen.
Obwohl weitere Forschung erforderlich ist, um die genauen Bakterienstämme zu identifizieren, die das Molekül produzieren, weisen die Wissenschaftler auf Veränderungen in der mikrobiellen Ökologie des Darms hin, die mit Ernährungsveränderungen und einer Anreicherung bestimmter Bakteriengattungen wie Escherichia, Shigella und Eubacterium zusammenhängen. Die gute Nachricht: Menschen, die sich an eine gesunde Ernährung halten – reich an Gemüse, Obst, Vollkornprodukten, Fisch, Tee und fettarmen Milchprodukten – weisen niedrigere Blutspiegel von Imidazolpropionat auf.
Die argentinischen Mikrobiologen Federico Rey und Vaibhav Vemuganti loben in einem Nature-Kommentar die „aufregenden Möglichkeiten“, die diese Studie für die Prävention und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen eröffnet. Sie betonen, dass der Effekt von Imidazolpropionat auf die Plaquebildung in den Arterien von Mäusen unabhängig von Cholesterinveränderungen auftritt. Dies ist entscheidend, da trotz der Wirksamkeit von Statinen zur Cholesterinsenkung, ein signifikanter Teil der Patienten weiterhin kardiovaskuläre Ereignisse erleidet.
Die Studie wurde dank der Zusammenarbeit von über 4.000 Freiwilligen der Banco Santander sowie finanzieller Unterstützung von der Stiftung “la Caixa”, dem Europäischen Forschungsrat und der staatlichen Forschungsagentur ermöglicht. Diese Entdeckung reiht sich ein in eine wachsende Erkenntnis über die Rolle von Darmmikroben bei verschiedenen menschlichen Krankheiten, einschließlich der jüngsten Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen bestimmten Escherichia coli-Stämmen und dem sprunghaften Anstieg von Darmkrebs bei jüngeren Menschen.
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