Neue Netflix-Dokumentation zeigt wie ein Kuss Spaniens Fußball veränderte

1106

Letztendlich war es ein Tweet, der den Sturz von Luis Rubiales auslöste. Die Weltfußballerin Alexia Putellas schrieb: “Das ist inakzeptabel. Genug ist genug. Ich unterstütze dich, @Jennihermoso.” In den Stunden danach wurde aus dem einfachen #SeAcabó, “es reicht”, der Kampfruf einer Bewegung, die das ganze Land mitriss. Zuerst nutzten ihn die spanischen Fußballerinnen, dann folgten Hunderte von Frauen bei Demonstrationen auf den Straßen Madrids.

Eine neue Netflix-Dokumentation beleuchtet die Ereignisse, die zu Putellas’ Tweet führten, aus der Perspektive der betroffenen Frauen. Zum ersten Mal äußern sich die spanischen Fußballspielerinnen zu den Vorkommnissen in ihrem Nationalteam. Sie zeichnen das Bild eines Verbandes, der durch Vetternwirtschaft, Bevorzugung, Machismo und fehlende Professionalität charakterisiert war.

Was die Welt beobachtete – der Kuss, den Luis Rubiales, der damalige Verbandspräsident, Jenni Hermoso nach dem WM-Finale 2023 gab – ist trotz seiner Schockierendheit nur ein Zeichen des jahrelangen systematischen Sexismus.

„Wir waren seine kleinen Mädchen“, erinnert sich Verteidigerin Irene Paredes, wenn sie über Rubiales spricht. Sein Auftritt bei der Teamsitzung vor dem WM-Finale illustriert dies perfekt. „Alexia, wer ist härter, ihr oder die anderen?“, fragt er. Putellas bleibt stumm. Er insistiert: „Ich höre nichts.“ „Wir“, antwortet sie leise. Er fordert: „Lauter!“ Sie wiederholt ihre Antwort mit erhobener Stimme.

Er fragt Aitana Bonmatí, wer cleverer sei, und lässt sie die Antwort wiederholen. Er fragt alle: «Wer hat die grösseren Eierstöcke?», und lässt alle die Antwort wiederholen, bis sie ihm laut genug ist. Den Spielerinnen wird in der Dokumentation die Machtdemonstration noch einmal vorgeführt; in ihren Gesichtern sieht man Hilflosigkeit, Scham, Abscheu.

Die Missachtung der Spielerinnen durch den Verbandschef wurde auch am Rande des WM-Finales deutlich, das Spanien mit 1:0 gegen England für sich entschied. Nach dem Schlusspfiff machte Rubiales eine obszöne Geste, indem er sich triumphierend zwischen die Beine griff – ein Zeichen der Verbundenheit mit dem Trainer Jorge Vilda auf dem Spielfeld: Sie hatten es vollbracht. Als Rubiales dann bei der Siegerehrung den Kopf von Hermoso mit beiden Händen ergriff und ihr einen Kuss auf den Mund drückte, raubte er den Frauen endgültig ihren Triumph. Dieses Ereignis wird sie in den folgenden Wochen weiterhin beschäftigen.

Es ist bemerkenswert, dass die Spanierinnen Weltmeisterinnen wurden. Nicht, dass sie schlechte Spielerinnen sind – im Gegenteil. Putellas, Bonmatí und Paredes, die mit dem FC Barcelona die Champions League gewannen, zählen zur Weltelite. Doch war es für sie umso frustrierender, dass die Trainings- und Spielvorbereitungen im Nationalteam mangelhaft waren und Trainer Vilda den Anforderungen nicht gerecht wurde.

Vilda reagiert auf Kritik mit einem Kontrollwahn. Er durchsucht die Taschen der Spielerinnen, wenn sie vom Einkaufen zurückkehren, und betritt ihre Zimmer, selbst wenn sie schon zu Bett gegangen sind. Die Spielerinnen setzen sich vergeblich für Verbesserungen ein, während die männlichen Nationalspieler üppige Prämien erhalten. Sergio Ramos, der langjährige Star von Real Madrid, schrieb in einer SMS an Rubiales: „Und vergiss nicht die Hublot-Uhr.“

Im September 2022 traten nach einer weiteren enttäuschenden EM 15 spanische Nationalspielerinnen zurück. Einige kehrten jedoch für die WM 2023 zurück, die mit einem Titelgewinn endete.

Bei jeder Initiative der Spielerinnen und ihren Bitten um Verbesserungen hat der Verband konsequent mit Lügen und Schuldzuweisungen an die Spielerinnen geantwortet. Diese Strategie wurde sogar beibehalten, als der Übergriff auf Hermoso weltweit bekannt wurde.

Direkt nach dem WM-Finale verbreitete sich eine Erklärung, in der Hermoso den Kuss als einvernehmlich darstellte. Dies war jedoch nicht der Fall. In der Garderobe, während der Feierlichkeiten, äußerte sie klar: «Das hat mir aber nicht gefallen.» Tränen flossen im Bus neben Putellas, während ihre Kolleginnen ratlos waren. Hermoso vergoss erneut Tränen, als sie in der Dokumentation darüber sprach.

Die Marketingabteilung drängt darauf, dass ein Statement bei der Integritätsstelle des Verbands abgegeben wird, welches besagt, dass der Kuss aus Euphorie erfolgte. Der Sportdirektor des Verbands, Albert Luque, versucht über SMS, eine Freundin von Hermoso zu überreden, auf sie einzuwirken. “Ich finde Jennys Verhalten wirklich abscheulich”, schreibt er, “ich hoffe, sie bekommt, was sie verdient.” Die Drohungen zeigen Wirkung. Hermoso gibt an, sie habe nicht ohne ständige Angst und Blick über die Schulter herumlaufen können.

Nach dem Titelgewinn nimmt der Druck auf Rubiales zu. Er kontert mit der Einberufung einer außerordentlichen Versammlung, wo er sich als Opfer eines “falschen Feminismus” darstellt und beteuert, der Kuss sei mit Einverständnis erfolgt. Zu Trainer Vilda äußert er: “Wir haben viel ausgehalten, Jorge. Bleibe vier weitere Jahre, du verdienst 500.000 Euro jährlich.” Rubiales bekräftigt fünffach: “Ich trete nicht zurück.” Schließlich sieht sich Alexia Putellas gezwungen zu erklären: “Es ist genug.”

Die Spielerinnen haben ein Statement veröffentlicht, in dem sie Hermoso ihre Unterstützung zusichern. Es sind jetzt nicht nur 15, sondern alle ehemaligen und aktuellen Nationalspielerinnen, die ankündigen, unter der aktuellen Führung nicht mehr für Spanien anzutreten. Sie fürchteten, nie wieder in die Nationalmannschaft berufen zu werden, „doch das war wichtiger als jede Angst“, so Irene Paredes.

Die Frauen betonen deutlich: Hierbei handelt es sich nicht um Streitigkeiten mit einem rückständigen Verband. Die Botschaft, die sie vermitteln möchten, lautet: Übergriffiges Verhalten von Männern ist inakzeptabel. Dies ist ebenfalls die Kernaussage der Netflix-Dokumentation.

Bild: Archiv


Sie möchten immer die neuesten Nachrichten aus Spanien?
Abonnieren Sie unseren Newsletter